Ein kollektives Bildungsexperiment nannte die Zeitung „Die Welt“ das, was Schülerinnen und Schüler genau wie ihre Lehrkräfte derzeit weltweit mitmachen. Gefragt, ob sie teilnehmen möchten, hat sie niemand, genauso wie sie niemand darauf vorbereiten konnte.
Text Uta Winterhager aus Bauwelt 17/2020
Plötzlich, in NRW war es am Freitag, 13. März 2020, wurden alle Schulen geschlossen – als ein Teil von vielen #flattenthecurve-Maßnahmen zeigte dies Wirkung, allerdings erst nach Wochen, als die Zahlen gemeldeter Corona-Neuinfektionen wieder geringer wurden. Uns allen, Erwachsenen wie Kindern, werden die Wochen des Lockdowns, in denen nichts mehr ging, mit ihrer irritierenden, angsterfüllten Atmosphäre noch lange im Gedächtnis bleiben. Und nicht nur das, die Bewältigung der wirtschaftlichen, sozialen und gesundheitlichen Schäden wird uns noch lange beschäftigen. Dass sich die Lebensqualität der Kinder und Jugendlichen in Deutschland während der Corona-Pandemie vermindert hat, dass vermehrt von psychischen und psychosomatischen Auffälligkeiten berichtet wird und dass vor allem Kinder aus sozial schwächeren Familien betroffen sind, bestätigte die Mitte Juli veröffentliche COPSY-Studie des UKE Hamburg.
Die Heinrich-Böll-Stiftung fordert auch in Zeiten der Pandemie ein Rechtauf Bildung: Internationale Studien zeigen, dass die meisten Schüler/innen während der Schulschließungen in ihrer Lernentwicklung deutlich zurückfallen, und dabei verlieren diejenigen, die es aufgrund ihrer sozialen Benachteiligung ohnehin schon schwerer haben, besonders viel. Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich noch weiter, Bildungsarmut und wachsende Ungleichheit sind die Folge. Es sind aber nicht allein die schwer aufzuholenden Bildungsdefizite, die sich nachteilig auf Bildungs- und Erwerbsbiografien auswirken. Hinzu kommen die massive Einschränkung der für die Entwicklung von Kindern notwendigen sozialen Kontakte, die Belastung von Eltern und Familien, ein erhöhtes Risiko von Misshandlungen und sexueller Gewalt sowie die Gefährdung besonders vulnerabler Gruppen (z.B. Kinder mit Behinderungen).
Die Stiftung weist fünf Handlungsfelder aus, mit denen das Bildungssystem besser durch die Krise kommt bzw. weitere Schäden verhindert werden können. Sie fordert Lernstandermittlungen, Klärung von Zuständigkeiten, Lehrerfortbildungen, damit digitale Formate besser genutzt werden können, und fordert besondere Aufmerksamkeit für die Inklusion. Die Hauptforderung geht jedoch nicht nur mit regelmäßigen Testungen einher, sondern mit einer rationalen Einschätzung der tatsächlichen Situation: Die im Interesse der Kinder und Jugendlichen dringend gebotene, möglichst rasche Wiederaufnahme des regulären Kita- und Schul-betriebs braucht Mut und Vorsicht, gute Vorbereitung und Flexibilität zugleich.
Denn genau so haben sich die Schülerinnen und Schüler, die Lehrkräfte, Pädagogen und Schulleitungen in den letzten Monaten bewegt. Und je nach Persönlichkeit der Entscheider, nach allgemeiner oder konkreter Infektionslage mehr oder weniger mutige Schritte gewagt, um Erlässe umzusetzen und dabei trotzdem vieles möglich zu machen. Grundschullehrerinnen haben einen Doppeltisch auf dem Schulhof aufgebaut, um ihre Kinder wenigstens durch die Plexiglasscheibe einmal in der Woche persönlich betreuen zu können, andere haben Hausbesuche gemacht, Briefe geschrieben, sogar Essen mitgebracht. Da gab es den Stufenleiter, der seine gesamte EF in acht Videokonferenzen mit je fünfzehn Teilnehmern sprechen wollte – einfach nur so, weil er es wichtig fand. Es gab Lehrer, die haben am Wochenende Pfeile mit Klebeband auf den Boden der Schule geklebt, um Gänge zu Einbahnstraßen zu machen. Klausuren wurden in Turnhallen geschrieben, um Abstände einzuhalten, Sportunterricht war ja ohnehin nicht erlaubt. Es gab aufwendige Choreografien zur Abiturentlassfeier, die in diesem Jahr auf dem Sportplatz oder im Autokino stattgefunden hat. Aber es gab auch vieles einfach nicht, kaum ein Kind (oder Elternteil) hat nicht gemerkt, wie sehr ihm schlichtweg sein Alltag fehlt, das tägliche Miteinander.
Die Krise hat viele bereits bekannte Missstände noch deutlicher markiert. Wie sehr zum Beispiel die Schulen bei der Digitalisierung hinterherhinken, zeigte sich, als der Fernunterricht die einzige Option war, die zum Unterrichten blieb. Fünf Milliarden Euro hatte der Bund mit dem Digitalpakt bereits im Mai 2019 bewilligt, doch abgerufen wurden davon in den ersten sieben Monaten nur etwa 20 Millionen. Corona gab dem jedoch einen deutlichen Schub: Allein in NRW sollen, so hieß es in einer Pressemitteilung des Ministeriums für Schule und Bildung Ende Juni 2020, rund 350 Millionen Euro in das Lernen und Lehren mit digitalen Medien investiert werden. Mobile Endgeräte, ausgestattet mit der entsprechenden Software, sichere Kommunikationsplattformen, Fortbildungen für die Pädagogen und vor allem auch feste Stellen für Schul-IT-Manager helfen sicher und vergleichsweise schnell die Situation insbesondere für den Fernunterricht (aka Homeschooling) zumindest technisch deutlich zu verbessern.
Wesentlich träger und wesentlich kostenintensiver ist dagegen der Schulbau. Auch hier war die Misere seit Jahren bekannt, die Zahlen sind erschreckend. In Köln, das hier sicher beispielhaft für alle Metropolen mit schnell wachsender Einwohnerzahl steht, fehlen rund 50 Schulen. 192 Projekte mit Priorität, Neubauten wie Instandsetzungen, stehen derzeit auf einer Liste des Amtes für Schulentwicklung. Diese abzuarbeiten wird dauern, da mindestens 100 Fachkräfte fehlen, in der Gebäudewirtschaft, der Bauaufsicht, der Stadtplanung ist vieles im Verzug. Und das sind Zahlen, die unabhängig von der Pandemie bestehen.
Bundesweit wurden die Schulen vergleichsweise früh geschlossen und erst spät oder nur teilweise geöffnet – als in Fitnessstudios schon längst wieder trainiert wurde. Während der Besuch eines privaten Fitnessstudios eine individuelle Entscheidung ist, bewegen sich Schulen zwischen widersprüchlichen gesellschaftlichen Ansprüchen: Es gibt ein Recht auf Bildung bzw. eine Schulpflicht, gleichzeitig gilt es, die Gesundheit der Schulgemeinschaft zu schützen. Viele Entscheidungen mussten die Schulen von Freitag auf Montag umsetzen, es wurde improvisiert und ausprobiert. Bei aller Ungewissheit über die Folgen der Pandemie, kann man sicher nicht davon ausgehen, dass dies ein einmaliges Ereignis bleiben wird. Muss man den Schulbau denn nun ganz neu denken? Michael Gräbener, Leiter der Abteilung Schulbau-und Schulbetreuung der Stadt Köln, mahnt zur Besonnenheit: „Man muss aufpassen, dass man aus einer besonderen Situation nicht die Regel macht. Wenn ich einen Amoklauf als Grundlage für alle weiteren Planungen nehme, haben wir demnächst keine Schulen mehr, sondern Festungen. Auch die Pandemie ist keine normale Lage. Und wenn ich Planungen von Gebäuden, die 80 Jahre Bestand haben, nach einem einzelnen besonderen Ereignis ausrichte, dann mache ich etwas falsch.“
Die Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft (MJG), der Bund Deutscher Architekten BDA und der Verband Bildung und Erziehung (VBE) haben die Krise jedoch zum Anlass genommen, ihrer seit Jahren wiederholt geäußerten Forderung nach Investitionen in innovative und hochwertige Schulbauten noch einmal Nachdruck zu verleihen und die Vergabe von Bundesmitteln aus dem Corona-Konjunkturpaket zur Unterstützung der Kommunen an Qualitätskriterien zu knüpfen. Barbara Pampe, Architektin und Vorständin der MJG befürchtet, „wenn dort coronabedingt Gewerbesteuereinnahmen fehlen, wird es Sparmaßnahmen geben – man fällt zurück auf Altes, weil man denkt, dass es günstiger ist. Wir brauchen aber zukunftsfähigen Schulbau, und wenn wir jetzt Geld in die Hand nehmen, sollten wir die Chance nutzen, damit etwas Neues zu realisieren.“ Wie das Neue aussehen kann, das das von der MJG formulierten Förderkriterium „Die Lernumgebung ist flexibel und adaptiv. Flächen können mehrfach genutzt und multipel belegt werden“ erfüllt, zeigt ein der Pressemitteilung beigefügter Grundriss der im Bau befindlichen Staatlichen Gemeinschaftsschule am Hartwege in Weimar (Pilotprojekt von MJG, IBA Thüringen und Stadt Weimar, in Kooperation mit gernot schulz : architektur, Köln; Hausmann Architekten, Aachen; studio urbane Landschaften, Hamburg; und weiteren) mit Simulation eines Lernsettings unter Berücksichtigung der Abstandsregeln.
Auch wenn es noch zu früh für fundierte Ergebnisse aus der Praxis ist und mit den Projekten, die jetzt gebaut werden, fünf bis zehn Jahre alte Erkenntnisse umgesetzt werden, sieht Raphaella Burhenne de Cayres (Architektin, Schulbauberaterin und Geschäftsführerin bei gernot schulz : architektur) großes Potential bei den offenen Lernlandschaften: „Mit dem differenzierten Raumangebot wird den Kindern eine Lernumgebung geboten, in der sie sich frei bewegen können und aus der Begrenztheit des Klassenraums heraus kommen. Abstandsregeln und Aufsichtspflicht können leichter eingehalten werden. Übersicht ist durch die Transparenzen weiterhin gegeben. Querlüftung und größeres Raumvolumen unterstützen die Raumhygiene.“ In der Bildungslandschaft Altstadt Nord in Köln (Bauwelt 12.2019) setzte das Büro zusätzlich zur Lüftungsanlage große Lamellenfenster ein. Damit kann der volle Lüftungsquerschnitt auch im Schulbetrieb ausgenutzt werden, ohne dass durch offene Fensterflügel Verletzungsgefahr besteht. Zudem konnte sie beobachten, dass Schulen, die bereits über ein funktionierendes Medienkonzept verfügen und eine Pädagogik anwenden, die Kinder lernen lässt, eigenständig zu lernen, wesentlich besser durch die Krise gekommen sind.
Professor Frank Hausmann (Aachen/Köln), der als Architekt das Schulministerium NRW berät und an der im Herbst erscheinenden neuen Schulbaurichtlinie für NRW beteiligt ist, glaubt aber nicht, „dass sich der Schulbau durch die Pandemie groß verändern wird. Manchmal sind es Kleinigkeiten. Wir haben in den letzten Jahren die Waschbecken mit der Begründung weggeplant, dass alles digital läuft, niemand schreibt mehr mit Kreide. Ich kann Ihnen aber garantieren, dass wir in den nächsten Planungen wieder überall Waschbecken drin haben werden.“ Dass die Außenräume in der aktuellen Situation nicht noch mehr genutzt werden, wundert ihn angesichts der Tristesse auf den Schulhöfen nicht. Doch auch hier, so Hausmann, habe sich etwas bewegt, die Freibereiche rückten mehr in den Fokus, jedes Team, das an einem Schulbauwettbewerb teilnimmt, brauche einen Landschaftsarchitekten. Wie diese Außenräume insbesondere im städtischen Kontext, wo Platz knapp ist, aussehen können, zeigt er am Entwurf für den Bildungscampus des Erzbistums Köln in Kalk (WettbewerbDezember 2019). Hier gibt es großzügige Lernterrassen, die über breite Glastüren mit den Lernbereichen verbunden sind. Im Bereich der Grundschule dienen Außentreppen der direkten Erschließung. Und der Forderung der MJG, die Schulen, die sich derzeit vollkommen abschotten müssen, ins Quartier zu öffnen, entspricht der Bildungscampus beispielhaft mit einer öffentlichen Spange für Mensa und Café, die auch von außen genutzt werden kann, die Schule selbst liegt in einem sicheren Bereich darüber.
„Man muss nicht jede Schule neu bauen, aber es muss im Bestand einfacher werden, etwas anzupassen“, sagt Barbara Pampe, die auch an der Erarbeitung der neuen Schulbaurichtlinie für NRW beteiligt war. Denn „Gebäude können helfen, eine neue Lehr- und Lernkultur in der Breite zu etablieren. Das Problem ist das alte 60-Quadratmeter-Klassenzimmer mit 30 Kindern. Weder differenziertes Lernen noch die Einhaltung von Abstands- und Hygieneregeln ist hier möglich.“ Natürlich hängt die MJG die Latte mit ihrem Kriterienkatalog sehr hoch, wie wichtig es aber ist, den Raum als dritten Pädagogen endlich ernst zu nehmen und in gute Schulen zu investieren, haben die letzten Monate überdeutlich gezeigt. Kinder und Jugendliche brauchen ihre Schule als Lern- und Lebensraum, Corona darf hier nicht als Ausrede vorgeschoben werden, sie ihnen jetzt und in Zukunft vorzuenthalten.
Hier der Link zur Seite der Bauwelt:
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